Schweiz, Mitte der siebziger Jahre des 20 Jahrhunderts. Professor Christian Zeggher lernt eine Frau kennen und lieben. Kurz darauf verschwindet er spurlos. Gelingt seinen Freunden Philipp und Lennard die Klärung seines Schicksals? Welches dunkle Rätsel verbindet die drei Männer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Können Glaube, Liebe und Hoffnung die Schatten vertreiben? Lassen sich Sex, Arbeit und Gebet vereinen oder sind die Drei endgültig zum Scheitern verurteilt? Eine Saga über eine Männerfreundschaft.......
ISBN 978-3-7418-6368-4
Arosa – deutschsprachige Schweiz – Mitte der siebziger Jahre
Chur, am rechten Alpenrheinufer auf einer Höhe von etwa 590 Metern über dem Meeresspiegel gelegen, gilt als älteste Stadt der Schweiz. Verlässt man sie in östlicher Richtung und wählt die steile, extrem schmale und kurvenreiche Schanfigger Straße hinauf in die Berge, erreicht man nach ungefähr fünfundvierzig Minuten Fahrzeit den Kurort Arosa. Die 1775 Meter über dem Meeresspiegel ansässige beschauliche Gemeinde im Kanton Graubünden zählt um die dreitausend Einwohner.
In der Nähe des malerischen Ortes befanden sich die Gebäude der Zeggher-Klinik. Doktor Philipp Northwood stand am Fenster seines Büros. Es lag im Erdgeschoss der Privatklinik für Lungen- und Atemwegserkrankungen, die der aus England stammende Chirurg zusammen mit seinem langjährigen Freund Christian Zeggher leitete. Professor Zeggher war gebürtiger Schweizer.
Weder die Finsternis noch den an das Fenster schlagenden Regen nahm der Arzt in diesem Moment wirklich wahr. Er beschwor Bilder der Vergangenheit, sah seine Frau im weißen Brautkleid am Arm seines besten Freundes auf sich zuschreiten. Der Boden der kleinen Kirche war über und über mit den Blütenblättern roter Rosen bedeckt. Keine sechs Monate war das her. Er lächelte in Gedanken versunken über die Ereignisse und Eindrücke der letzten Zeit. In diesem Jahr hatte er viel von der Welt gesehen, nicht nur auf seiner Hochzeitsreise. Das verdankte er der Tatsache, dass sein Freund und er beruflich die Rollen getauscht hatten. Den Flitterwochen folgte eine seitens des Professors geplante längere Forschungs- und Geschäftsreise – Christians Geschenk an das junge Paar.
Northwood war Mitte dreißig, ein äußerst gutaussehender, großer und schlanker Mann mit dunklem, welligem Haar. An den Schläfen zeigte sich erstes Grau. Noch vor kurzem hätte man ihn als ernst und sehr in sich zurückgezogen, keinesfalls als glücklich beschrieben. Seine erste Frau hatte ihn schon vor Jahren verlassen und lebte in ständig wechselnden Partnerschaften. Er strengte dennoch lange keine Scheidung an. Sein Schwiegervater, Sir Lennard Maydon, zu dem er ein sehr herzliches Verhältnis aufgebaut hatte, bat ihn um die vorläufige Aufrechterhaltung der restlos zerrütteten Ehe. Seine Tochter sollte einen festen Punkt in ihrem Leben behalten, damit sie nicht völlig unter die Räder geriete. Inzwischen war sie seit mehr als einem halben Jahr tot. Die außergewöhnlich enge Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn hielt bis heute unbeschadet. Sie verkraftete unterschiedliche Karriereansichten und den plötzlichen Selbstmord von Northwoods erster Frau. Darüber hinaus akzeptierte Maydon die nur wenige Monate nach der Tragödie stattfindende Eheschließung Philipps mit der Assistenzärztin Lessia Ferrin. Die junge Frau hatte die Krankenpflege aufgegeben und Medizin studiert. Als sie nach ihrem Abschluss in London nicht sofort eine passende Stelle fand, beschloss sie, in die Schweiz auszuwandern und die ausgeschriebene Stelle in der Zeggher-Klinik anzunehmen. Ihr Chef gewann eine tüchtige Ärztin, an die er sein Herz verlor.
Für die verantwortungsvolle leitende Position erschien Philipp Northwood bemerkenswert jung. Professor Zeggher, Erbauer der Klinik, besaß in Zürich ein kleines Wohnhaus in der Nähe des Kantonsspitals. Dort arbeitete und lehrte er. Er besuchte darüber hinaus öfter Krankenhäuser, Kliniken und Hospitäler in unterschiedlichsten Ländern und brachte stets neue wissenschaftliche Erkenntnisse - vorzugsweise über die Optimierung von Arbeits- und Behandlungsabläufen auf chirurgischen Stationen - mit nach Hause. Sobald sie die gegebenenfalls erforderlichen Genehmigungen dafür eingeholt hatten, setzten er und Philipp in ihrer Klinik um, was möglich war und ihren Patienten nutzte. In der Folge stellte der Professor die daraus resultierenden Ergebnisse Medizinstudenten und Ärzten vor, in Hörsälen, auf Kongressen oder in Fachzeitschriften oder -büchern zum Beispiel. Über sämtliche betriebswirtschaftlichen Belange wachte von London aus Rechtsanwalt Sir Lennard Maydon, der sich entsprechend auskannte. Er war Aufsichtsratsvorsitzender eines großen Londoner Krankenhauses und unterhielt in dessen riesigem Verwaltungsgebäude seit Jahrzehnten seine Kanzlei.
Die Privatklinik unweit Arosas genoss in Fachkreisen einen hervorragenden Ruf. Solide Erlöse und Gewinne hatten kluge Investitionen ermöglicht. Dennoch: Zumindest Tuberkuloseerkrankungen waren im mitteleuropäischen Raum stark rückläufig und wurden immer seltener operativ behandelt. Antibiotika einzusetzen war das Mittel der Wahl. Obwohl dieses Gebiet der Schweiz nach wie vor allseits empfohlen war, spürte man das. Wenn man sich auskannte, fiel auf, dass etliche ehemalige Kliniken und Sanatorien in bestausgelastete Hotels umgewandelt worden waren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Arosa weniger als Genesungsort für Lungenkranke als vielmehr ausschließlich als Wintersportgebiet von sich reden machen würde.
Noch füllte sich die Klinik wegen des Klimas in den Bergen stets gut mit Tuberkulose-, COPD- und Asthmapatienten. Northwood und Zeggher widmeten sich auch Patienten mit Mehrfacherkrankungen, chronischer Bronchitis und Pneumonie, waren auf Tumore der Atemwege spezialisiert, kannten sich mit kardiologischen Beeinträchtigungen aus. Doch die aus betriebswirtschaftlichen Gründen bevorstehende Schließung zweier weiterer Häuser in der Nähe zum Jahreswechsel zeigte glasklar, dass die Privatklinik auf Dauer nicht oder nur schwer zu halten sein würde, wenn es nicht gelang, künftig sinkende Fallzahlen auszugleichen. Aus diesem Wandel heraus entstand der Gedanke des Einstiegs in die Unfallchirurgie, für den mittlerweile die Weichen gestellt waren. Mit der Materie waren beide Chirurgen notgedrungen vertraut: Unmittelbar an das Klinikgelände grenzte ein riesiges Skigebiet. Erster Anlaufpunkt bei schweren Unfällen auf den Pisten war häufig die Klinik Professor Zegghers.
Auf Philipp Northwoods Schreibtisch stapelten sich von Sir Lennard Maydon ausgefertigte Vertragsunterlagen, die die künftige Zusammenarbeit mit dem Unfallkrankenhaus in Chur einvernehmlich regeln sollten. Es war längst abzusehen, dass bei weiter zunehmender Anzahl von Hotels in der unmittelbaren Umgebung die Zahlen der Urlauber und damit der vorzugsweise beim Wintersport verunglückten Patienten steigen und die Kapazitäten in Chur im Winterhalbjahr nicht mehr ausreichen würden. Tatsächlich hatten Northwood und Zeggher in der Vergangenheit schon mehrfach ausgeholfen und massenweise Patienten in ihrer Spezialklinik aufgenommen und behandelt. Mitunter – bei weitem nicht immer - wurden diese dann vor Ort von Medizinern aus Chur betreut. Lag Arosa jedoch durch massive Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten, stand Philipp allein für Versorgung, Behandlung und Unterbringung der Unfallpatienten gerade.
Die zunehmend komplexe Zusammenarbeit bestand bereits seit langem und funktionierte zwischen den Ärzten bestens. Aus juristischer Sicht ergaben sich jedoch manchmal bei der Abrechnung der erbrachten ärztlichen Leistungen Grauzonen. Die sich daraus ergebenden Unstimmigkeiten verhandelte Sir Lennard Maydon eisern und schlug tragbare Verfahrenswege vor, welches Haus unter welchen Umständen welche Kosten übernehmen sollte. Viele Erstuntersuchungen der Unfallpatienten oblagen den Ärzten in Arosa und fanden nicht in Chur statt. Lennard bestand auf entsprechender Rechnungslegung und Vergütung. Letztlich wurden seine Einlassungen zähneknirschend von den geschäftsführenden Verantwortlichen in Chur akzeptiert. Das Ergebnis war die vorliegende Vereinbarung zur rechtlichen Sicherheit für beide Häuser pünktlich zum diesjährigen Saisonbeginn. Auf Dauer ließ sich nicht mehr alles per Telefon oder Handschlag richten.
Der Vertrag beinhaltete außerdem Festlegungen zu Verantwortlichkeiten und Personalfragen, getrennter Unterbringung der Unfallpatienten in einem Teil des neuen Nebengebäudes in Arosa, zur Bereitstellung von Versorgungs- und Pflegematerial. Nicht zuletzt war der wesentliche Punkt verankert, dass allein das Krankenhaus in Chur die immensen Kosten für die Beförderung der Ärzte im Rettungshubschrauber zu tragen hatte, wenn die Serpentinenstraße nach Arosa im Winter nicht befahrbar war. Northwood hatte sich das Vertragswerk durchgelesen und wollte noch ein Detail mit Sir Lennard besprechen. Schließlich klingelte das Telefon. Die Zentrale stellte Maydon zu Northwood durch.
„Hallo, Dad, wie geht es dir?“ begrüßte Philipp seinen Schwiegervater herzlich.
„Noch hat mich die Erkältungswelle verschont“, antwortete Sir Lennard. „Hier in London ist es kalt und ungemütlich. Wie steht es bei euch?“
„Bis gestern war goldener Herbst. Jetzt hat es sich abgekühlt. Bald dürfte der erste Schnee fallen. Der wird noch nicht liegen bleiben. Du kannst ihn aber schon riechen, auch wenn es draußen gerade regnet und stürmt. Die ersten frühen Touristen sind eingetroffen. Momentan ist es ruhig in der Klinik. Allerdings hatten wir bei einem Patienten im OP ein paar Probleme, so dass ich die heutige dritte Operation auf den Plan von morgen setzen musste.“
„Drei Operationen an einem Tag sind ein ziemlich straffes Programm für einen Chirurgen allein, der außerdem eine Klinik leitet, Philipp“, meinte Sir Lennard besorgt.
„Ich weiß. Wir operieren im Moment verstärkt. Wenn erst die Saison läuft, muss ich Alex Berté für ein paar Wochen zu den Kollegen nach Chur freistellen, damit er dort lernt, Frakturen zu reponieren. Das hat mir mein lieber Schwiegervater in die Vertragsunterlagen geschrieben. Außerdem ist nicht mehr nur von zwanzig, sondern von zweiundzwanzig Betten für Chur die Rede. Deshalb rufe ich an, weil ich dich fragen wollte, woher plötzlich zwei zusätzliche Betten auftauchen.“
Lennard Maydon lachte. „Richtig, ich vergaß, die Bettenzahl hat Christian nach oben korrigiert. Er hat vor langer Zeit von irgendwoher zwei defekte Krankenhausbetten geschenkt bekommen und deren Reparatur und den anschließenden Transport Richtung Arosa in die Wege geleitet. Demnächst wird dir die Lieferung zugestellt. Die Instandsetzung hat sechs Monate auf sich warten lassen, dafür ist der Rechnungsbetrag extrem niedrig. Diese Information hat er seiner letzten Spesenabrechnung an mich beigefügt. So lange er mir die per Post schickt, denkt er nicht an eine Heimkehr, wie die Vergangenheit zeigt. Du wirst ihn wohl noch eine Weile entbehren müssen, auch wenn ich in Erinnerung habe, dass er versprochen hat, künftig deutlich weniger unterwegs zu sein.“
Philipp lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, von Vorfreude erfüllt. „Das sollte seine letzte große Reise sein, die ihn nach außerhalb Europas führte. Nicht überall ist die Tuberkulose soweit zurückgedrängt wie bei uns. Das hat ihn veranlasst, noch einige große Krankenhäuser in den Tuberkulosehochburgen - wie er es nennt - zum Erfahrungsaustausch zu kontaktieren. Dann ist sein Platz wieder in Zürich, und Arosa ist nicht weit. Ich freue mich riesig, wieder öfter mit ihm zusammen im OP zu stehen.“
„Hm. Du glaubst wirklich, dass er das Reisen einschränkt?“ In Sir Lennards Stimme schwang leiser Zweifel.
„Ja. Auf Christians Wort ist unbedingt Verlass, das weißt du. Außerdem rechnet er bald mit Lessias längerem Ausfall, weil wir uns doch Kinder wünschen.“
„Das klingt allerdings nach Christian“, stimmte Maydon zu. „Probleme im Vorfeld erkennen und sinnvolle Lösungen planen, so kennen wir ihn. Wie geht es Lessia?“
„Soweit gut, abgesehen davon, dass sie in letzter Zeit häufig erschöpft und müde ist. Ob sich das auf eine Schwangerschaft im Frühstadium zurückführen lässt, werden wir sehen. Ziemlich fertig sind wir jedenfalls beide am Ende eines harten Arbeitstages.“
„Kein Wunder. Pass ein bisschen auf euch auf, Philipp“, mahnte Sir Lennard.
„Das sagt mir ausgerechnet das größte Arbeitstier von ganz London!“, scherzte Northwood. „Aber du hast Recht. Ich hoffe sehr, dass Christian bald zurückkehrt und uns entlastet. Seine Unterschrift brauchen wir für den Vertrag nicht, sagtest du, weil er uns Generalvollmacht eingeräumt hat. Ich unterschreibe also allein und sende morgen jeweils ein Exemplar an dich und die Geschäftsleitung der Klinik in Chur. Das dritte lege ich in den Safe. - Ich danke dir für das alles, Dad. Christian und ich hätten gar keine Zeit, uns solche Gedanken um eine Umstrukturierung der Klinik zu machen, geschweige denn sie rechtssicher durchzuführen und alle erforderlichen Anträge und Gesuche auszuformulieren.“
Maydon war anzumerken, dass er sich über das Lob freute. „Keine Ursache, Philipp! Ich freue mich, dass es in Arosa so gut läuft. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Ihr seid auf einem guten Weg, obwohl der Standort sehr abgelegen ist, was euch immer wieder Personalprobleme bescheren dürfte. In großen Krankenhäusern bleibt dafür manches, was man schnell und unbürokratisch erledigen müsste, wegen festgeschriebener Verantwortlichkeiten auf der Strecke. Am Ende wird gar nichts entschieden und alles bleibt, wie es war. Bei euch ist das anders. Du stehst im OP und hältst die Klinik in ihrem Inneren zusammen. Christian kennt eine Unmenge Leute um den ganzen Erdball und bringt von außen immer wieder neue Gedanken, Impulse und Ideen herein, was sich sogar auf die Motivation des Personals positiv auswirkt. Außerdem habt ihr ein glückliches Händchen beim Erkennen und Berücksichtigen betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge, seid in gesundem Maß auch einmal risikobereit. Bei alldem steht ihr beide euch nicht im Mindesten im Weg, obwohl ihr begnadete Chirurgen seid, die sich eigentlich wegen fachlicher Meinungsverschiedenheiten öfter in den Haaren liegen müssten. Ich habe in meinem ganzen langen Arbeitsleben noch nicht gesehen, dass eine solche Form der Zusammenarbeit bei jemand anderem so perfekt harmoniert hätte wie bei euch.“
„Das liegt sicher zum einen daran, dass Christian mir alles Fachliche selbst beigebracht hat und du uns zum anderen in allen betriebswirtschaftlichen, steuer- und vertragsrechtlichen Belangen treu zur Seite stehst. Du hast uns ganz sicher schon vor etlichen kostspieligen Fehlern und Versäumnissen bewahrt. Damit fallen zwei ernst zu nehmende Punkte weg, die unser Verhältnis belasten könnten.“
„Mag sein. Aber alle Entscheidungen liegen allein bei euch. Ich kann euch nur beraten und euch auf Konsequenzen hinweisen, die einmal getane Schritte mit sich bringen. Hier in England laufen die Dinge auch ein bisschen anders als bei euch in der Schweiz. - Dass sich Christians umfangreiche Reisetätigkeit noch nie zum gravierenden Personalproblem ausgewachsen hat, sondern der Klinik ökonomisch solch immensen Nutzen beschert, nötigt mir viel Respekt und Bewunderung ab. Apropos Personal: Im Moment hat eher das Personalbüro hier ein Problem auf der Unfallstation, hörte ich. Marla hat sich krank gemeldet. Aber das sage ich dir ganz privat.“
Doktor Marla Adams war eine enge Freundin von Philipps Frau und Stationsärztin der Unfallstation des Londoner Krankenhauses, in dem Maydon den Aufsichtsratsvorsitz innehatte. Sie fungierte bei der Hochzeit der Northwoods als Trauzeugin.
„Oh, das tut mir leid. Ich hoffe sehr, dass es nichts Ernstes ist“, erwiderte Philipp mitfühlend. „Du erinnerst mich daran, dass heute ein Brief von ihr an Lessia in der Post lag. Den darf ich nicht vergessen ihr zu geben. Ich nehme ihn gleich mit in die Wohnung. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“
„Nicht dass ich wüsste. Machen wir Schluss für heute. Bestell Lessia einen Gruß von mir. Gute Nacht, Philipp.“
„Schlaf gut, Dad.“
Drei Jahre später geraten Professor Christian Zeggher und einer seiner Ärzte in den Verdacht, aus niederen Beweggründen schuldig am Tod einer Frau geworden zu sein. Es gibt sowohl ein Motiv als auch verwertbare Fingerabdrücke. Sind Christian, seine Frau und seine Freunde Philipp und Lennard den Anfechtungen gewachsen? Die Saga über eine Männerfreundschaft geht weiter.......
ISBN 978-3-7418-6501-5
Bern, 1978 - ungefähr drei Jahre später
Philipp und Lessia Northwood bewohnten ein schönes Zimmer in einem renommierten Hotel in der Bundesstadt der Schweiz. Die beiden besuchten während eines Kurzurlaubs einen Medizinerkongress, für den eigentlich Professor Zeggher die Einladung erhalten hatte. Der früher so reisefreudige Christian verließ die Schweiz nicht mehr, seit er Familie hatte. Er nahm nur Termine in Chur oder Zürich wahr und hatte Philipp und seiner Frau den Termin abgetreten, da er der Meinung war, sie hätten ein paar freie Tage dringend nötig. „Fahrt und genießt eure Zeit!“ Mit diesen Worten untersetzte er solche Anordnungen.
Lessia war erneut schwanger. Zu Anfang war es ihr nicht gut gegangen, doch jetzt hatte sie sich stabilisiert. Sie war eine glückliche junge Frau, die sich von ihrem Mann von ganzem Herzen geliebt und vergöttert wusste. Ihre Hand ruhte auf ihrem runden Bauch, während sie sich auf dem Bett des Hotelzimmers ausstreckte. Sie genoss die Ruhe. Ihre kleine Tochter Haylie befand sich bei Marla und Christian in Arosa in bester Obhut.
Arosa! Über seltsam verschlungene Wege hatte es sie dahin verschlagen. Ihre Gedanken flogen zurück in die Kindheit. Schon damals wollte sie Ärztin werden, um ihren Eltern zu helfen, die sie anders als gesundheitlich angeschlagen kaum kannte. Durch deren Krankheit und lange Zeiten ohne Beschäftigung war meist das Geld knapp. Ein Studium zu finanzieren kam nicht infrage. Also lernte Lessia auf Wunsch von Vater und Mutter den Beruf der Krankenschwester. Noch vor ihrem Abschluss verstarben beide. Sie hinterließen ihrer Tochter überraschend ein paar tausend Pfund, die sie im Lauf vieler Jahre für deren Hochzeit zusammengekratzt hatten. Dieses Erbe erweckte Lessias Wunsch aus Kindertagen wieder zum Leben. Sie beschloss jedoch zur Freude ihrer Freundin Paula, die gemeinsam begonnene Schwesternausbildung ordnungsgemäß zu beenden, um nicht ohne Abschluss dazustehen, falls sie das Medizinstudium nicht bewältigte. Während ihre Freundin als Krankenschwester sofort Arbeit fand, begann Lessia mit der Verwirklichung ihres Traums und wälzte dicke Lehrbücher. Während der Studienjahre freundete sie sich mit dem Kommilitonen Roger Wilkes an. Sie büffelten gemeinsam, saßen im Hörsaal stets getreulich nebeneinander, schafften zusammen den Abschluss. Vielleicht hätte Roger mehr als Freundschaft gewollt, doch das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Für Lessia war er ein verlässlicher Kamerad, nicht mehr. Er fand sofort eine Stelle in einem der vielen Krankenhäuser Londons. Lessia hatte nicht so viel Glück, kassierte zunächst etliche Absagen. Sie war neu im Beruf und zudem eine Frau – man traute ihr die Leistung eines Mannes nicht zu. Eines Tages fiel ihr eine Stellenanzeige in einer medizinischen Fachzeitschrift auf. In einer Privatklinik für Lungen- und Atemwegserkrankungen im Schweizerischen Arosa war eine Assistenzarztstelle frei. Ohne große Hoffnung bewarb sie sich – und erhielt postwendend einen ausführlichen und informativen Brief über die Arbeit in der Klinik mit der Bitte sich vorzustellen. Sie las das interessante Antwortschreiben des Klinikleiters Doktor Philipp Northwood zweimal – und bekam Angst vor der eigenen Courage. Sie musste nicht bei Trost gewesen sein, sich auf dem Kontinent zu bewerben! Einerseits hatte sie vielleicht die ersehnte Arbeitsstelle gefunden. Andererseits – sollte sie deshalb England den Rücken kehren? Nach einiger Überlegung fragte sie eine ehemalige Dozentin, Stationsärztin eines Londoner Krankenhauses, Doktor Marla Adams, um Rat. Die wesentlich ältere Frau war ihr während des Studiums eine verständnisvolle Freundin geworden. Sie und Roger redeten ihr zu, in die Schweiz auszuwandern, während Paula einer Trennung nicht so aufgeschlossen gegenüberstand. Doch am Ende herrschte Einigkeit in dem Punkt, dass sie jederzeit zurückkehren könne. Lessia brach in London ihre Zelte ab, buchte den Flug, nannte Doktor Northwood das Datum ihrer Ankunft. Philipp empfing sie am gleichen Abend in seinem Büro. Beim Eintritt verschlug es ihr die Sprache. Sie hatte sich einen grauhaarigen Patriarchen kurz vor dem Ruhestand als künftigen Vorgesetzten vorgestellt. Ihr Gegenüber war jedoch höchstens Mitte dreißig. Abgesehen davon sah er blendend aus, groß, schlank, dunkles, welliges Haar, gebräuntes Gesicht, schmale Hände. Sofort fasste sie Vertrauen zu Doktor Northwood. Sie einigten sich, dass Lessia anfangs einfachere Fälle und Nachuntersuchungen betreute und zu komplizierteren allmählich hinzugezogen wurde. Sie unterzeichnete ohne Bedenkzeit den angebotenen Arbeitsvertrag und bezog eine kleine Wohnung im Klinikgebäude. Außer Northwood war ein weiterer Arzt tätig: der Chirurg Doktor Alex Berté. Der Schweizer Arzt freute sich riesig auf die Zusammenarbeit mit Lessia. Ihr Einstieg bedeutete sowohl für ihn als auch für den Chef eine wesentliche Entlastung, denn zwei befristet angestellte Ärzte hatten ihren Vertrag nicht verlängert. Vom ersten Tag an gab es für Lessia mehr als genug zu tun. Fleißig kümmerte sie sich um ihre Patienten, hatte ein Auge auf deren Pflege und hinterfragte ohne erhobenen Zeigefinger beim Pflegepersonal, was ihr nicht optimal erschien. So und so hätte sie es anderswo gesehen. Häufig setzten die Schwestern den einen oder anderen Tipp der jungen Ärztin um. Lessia bemerkte es mit Freude. Kurz vor Weihnachten leerte sich die Klinik, viele Patienten wurden ganz oder auf Urlaub entlassen. Lessia wurde rascher mit ihrer Arbeit fertig. Am 24. Dezember gestattete sie sich einen Spaziergang durch die winterlich verschneite Gegend nach Arosa hinunter. Sie kam an der Kirche vorbei, gerade als der Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel begann. Kurz entschlossen trat sie ein, ließ sich vom Stück und der Weihnachtsstimmung gefangen nehmen. Während sich das Gebäude nach der Aufführung leerte, schritt sie nach vorn, um den Altar zu besichtigen. Als sie die Kirche verlassen wollte, bemerkte sie erschrocken den Mann, der noch ganz allein in der letzten Reihe verharrte: Philipp Northwood. Flammende Röte schoss ihr angesichts der völlig unerwarteten Begegnung ins Gesicht. Sie wusste längst von Alex Berté, dass ihr Chef seit Jahren verheiratet war, seine Frau jedoch nicht in Arosa lebte. Dass dies bedeutete, dass er den Weihnachtsabend einsam in der Kirche verbrachte, erschütterte sie zutiefst. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. Doch wenn sie zum Ausgang wollte, musste sie an ihm vorbei. Natürlich bemerkte er sie, registrierte ihr Zögern, ihre Bestürzung. Er habe sie nicht erschrecken wollen. Ob sie sich kurz zu ihm setze? Lessia nahm neben ihm Platz und wartete stumm, was Northwood ihr zu sagen hatte. Warum sich ihr Herzschlag beschleunigte, wusste sie nicht. Sie habe sich gut in der Klinik eingelebt, sei ausgesprochen fleißig, begann er. Ob er und Doktor Berté auf längere Zusammenarbeit hoffen dürften? Sie antwortete ihm, dass sie mindestens ein Jahr zu bleiben gedenke, um dann neu darüber zu befinden. Es sei schön, dass sie sich von der personellen Unterbesetzung und der vielen zusätzlichen Arbeit nicht entmutigen lasse, entgegnete er. Er habe schon bemerkt, dass sie ihre Obliegenheiten sehr ernst nehme. Northwood galt als pflichtbewusster Chef, der viel fordern konnte, weil er selbst überdurchschnittlich viel leistete. Lessia hatte sich darauf eingestellt, dass pünktliche Feierabende bis kurz vor Weihnachten die absolute Ausnahme waren. Während sie nervös und verlegen die Unterhaltung gern rasch beendet hätte, wirkte er entspannt, sogar erfreut, sie zu treffen. Nach einigen Augenblicken des Schweigens fügte er hinzu, er fliege in den nächsten Tagen nach London zu seinem Schwiegervater. Ihr rutschte die Frage heraus, warum er die Weihnachtstage nicht mit ihm verbringe. Ihr Chef seufzte. So sei es geplant gewesen, antwortete er, doch seine Frau sei plötzlich bei ihrem Vater aufgetaucht. Eine Begegnung mit ihr ende erfahrungsgemäß im Streit und verderbe allen Beteiligten das Fest. Also verschiebe er den Besuch. Es sei ohnehin an der Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Er habe seinen Schwiegervater vorgewarnt, dass er endlich auf einer Scheidung bestehe. Glücklicherweise habe auch Sir Lennard eingesehen, dass die Ehe nur noch auf dem Papier bestand. Sie, Lessia, sei an der Entwicklung nicht ganz unschuldig, setzte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. Erschrocken fragte sie ihn, wie er das meine. Sie habe ihm unbewusst gezeigt, dass er nicht nur Arzt, sondern auch Mann sei. Es täte ihm nicht gut, dass er sich ausschließlich hinter der Arbeit vergrabe, die Zeit sinnlos verstreichen ließ, sich selbst für einen Neuanfang blockiere und seine Seele in Ketten lege. Er gedenke sich von seinen Altlasten zu befreien. Die dunkle Bitterkeit in seiner Stimme berührte sie tief. Dass er unter dem Scheitern seiner Ehe litt, war sicher normal, fand Lessia, doch die privaten Probleme ihres Chefs allzu sehr an sich heranzulassen, ging nicht an. Obwohl sie es nicht ratsam fand, dass er ihr diese persönlichen Belange in der inzwischen menschenleeren Kirche auseinandersetzte, sagte sie zu, als er sie zum Essen einlud. Der Gedanke, dass ein begnadeter Chirurg, der jedes Jahr hunderten Patienten das Leben rettete, niemanden finden sollte, der ihm an Heiligabend ein wenig seiner Zeit schenkte, stimmte sie traurig. Gleichzeitig fragte sie sich, warum es ihr nicht möglich war, eine gesunde Distanz zu wahren. Zwei Tage danach ereignete sich etwas Seltsames. Doktor Berté suchte Lessia spät abends nach Dienstschluss auf. Er beginne seinen Dienst am Folgetag etwas später, um für seine in Arosa lebenden Eltern etwas zu erledigen, informierte der Kollege sie an ihrer Wohnungstür. Kaum war er fort, klopfte es forsch. Sie öffnete die Tür. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Ihr Chef stand mit angespannter Miene auf der Schwelle. Sie bat ihn einzutreten. Er fragte fast schroff, was Berté um diese Uhrzeit gewollt habe. Sie sagte es ihm verwundert. Er entspannte sich, gleich darauf errötete er. Offensichtlich geriet ihm die Peinlichkeit seines Verhaltens vor Augen. Im Gegensatz zu Alex fehlte ihm eine plausible Erklärung für sein Erscheinen. Sie standen sich wortlos gegenüber. Lessia rettete die Situation, bevor die Stille unangenehm wurde. Mit vor Verlegenheit hochroten Wangen bot sie ihm von ihren selbstgebackenen Plätzchen an. Philipp trank dazu eine Tasse ihres Tees und ließ sie wissen, dass er morgen früh nach England fliege, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Wann er zurück sei, ließe sich im Moment nicht einschätzen. Befangen wünschte sie ihm eine gute Reise und viel Erfolg. Er kehrte bereits am Abend des 2. Januar zurück, bemerkte ihr gegenüber bei einem Treffen vor einem Patientenzimmer, er habe mit Hilfe eines Anwalts das Scheidungsverfahren in die Wege geleitet. In spätestens sechs Monaten sei alles vorbei.
Die Autorin schreibt Geschichten und Begebenheiten aus Kindheit und Gegenwart. Sie rundet z. B. ihr Aufwachsen in der Kleinstadt, ihre Liebe zu Tieren, die Urlaube an der Ostsee, die Wiederbegegnung mit einer Bekannten aus Kindheitstagen, die Frage, ob man sich als Christ(in) tätowieren lassen darf, die Rückbesinnung auf ihre Schulzeit, zufällige Begegnungen mit Mitmenschen und die Bedeutung eines Teddys der Firma Steiff in ihrem Berufsleben mit ansprechenden Fotos aus ihrem Privatarchiv wirkungsvoll ab. Manchmal laden sie zum Lächeln und Nachdenken ein. Die Autorin glaubt an das Wirken Gottes und seines Sohnes Jesus Christus in ihrem Leben. Sie schreibt ausdrücklich nicht nur für Christen, sondern ermuntert Suchende, Zweifelnde und Fragende, Gott zu suchen und sich von ihm finden zu lassen.
Meine Kindheit? - Voll Bio!
Was wirklich Bio ist, erlebte ich in den ersten Lebensjahren. Im Neubaugebiet der Kleinstadt Mittweida wuchs ich auf, Spiel- und Wäscheplatz, Rodelberg und grüne Wiese direkt vor den um 1965 erbauten Wohnblöcken. Meine Eltern bestellten zudem auf dem großen Grundstück der Verwandten in der Nähe des Wasserturmes ein Gärtchen. Es lag oberhalb eines malerischen Teiches, von hohen Bäumen umgeben. Durchaus konnte man von einem Wäldchen sprechen. Neben Sandkasten und Schaukel besaß ich ein eigenes Beet. An den Wochenenden von April bis Oktober waren wir fast immer da, weil mein Vater dem älteren Ehepaar auf dem riesigen Grundstück mit Wohnhaus, Ställen, Nebengebäuden, einer Autolackiererei und riesigen Wiesen zur Hand ging. Auch unter der Woche nahm er ihnen nach der Arbeit im Büro seiner Maschinenbaufirma kleinere Tätigkeiten ab. Vorzugsweise griff er zur Sense und mähte die gigantischen Rasenflächen, wendete das Heu mit einem Holzrechen. War es trocken, rechte er es in großen Haufen auf meterlange, teilweise zerlöcherte Stoffbahnen. Deren Enden wurden über dem Heuberg zusammengeschlagen und verknotet. Diese Ballen ließen sich in die Scheune ziehen. Meine Mutter und ich ernteten inzwischen Obst und Gemüse, bestellten die Beete, bewässerten die Pflanzen. Wir mussten in jenen Jahren jede Strecke durch die Stadt laufen. Ein Auto schafften meine Eltern erst am Anfang meiner Teenagerzeit an.
Aus zersägten Birkenstämmchen erbaute mein handwerklich eher durchschnittlich geschickter Papa eine stabile Laube; er war Buchhalter. Zum Unterstellen bei Regen war sie bestens geeignet, wenngleich nichts zum Übernachten. Ein Platz zum Schlafen war nicht nötig. Zuhause wanderte die Tagesernte ohne Verzug am gleichen Tag frisch in Einkochgläser. Anschließend wurden die selbst hergestellten Marmeladen, sauren Gurken, Steinobst, sogar Eierlikör oder angesetzter Beerenschnaps im Keller eingelagert. Manchmal ging es mir in der Wohnung besser als draußen – ich entwickelte als Kind extrem starken Heuschnupfen. Meine Nieser erreichten die Stärke von Kanonenböllern und gingen allen Zuhörern mächtig auf den Wecker. Linderung brachten Spritzen, Tabletten, Ostseeaufenthalte in Thiessow auf Rügen und das zunehmende Lebensalter.
Durch den Bauernhof von Onkel und Tante kam ich ständig mit Tieren in Berührung. Das kinderlose Ehepaar hielt Hühner, Enten und Gänse, Katzen, einen oder zwei Hunde, etliche Schafe und Ziegen. Für die letzteren diente das eingebrachte Heu im Winter als Futter. Tatsächlich habe ich als kleines Mädel die tierischen Blöker und Meckerer gemolken. Welches Stadtkind kann schon von sich behaupten, das zu können? Vor dem Stall versammelten sich die freilaufenden Katzen, die meist zahlreiche Flöhe und Holzböcke sprich Zecken spazieren trugen, und schleckerten eifrig die Tonschälchen leer. Eine andere Verwertung erfuhr die frische Milch nicht – das ließen die hygienischen Gegebenheiten nicht zu.
Am interessantesten erschien mir das Geflügelvolk. Eisern richteten sich Onkel und Tante nach dessen Bedürfnissen. Zu Familienfeiern erschienen sie stets zweimal, fuhren zwischendurch nach Hause.
Zwischen Kaffeetrinken und Abendbrot waren pünktlich vor Einbruch der Dunkelheit die Hühner und Gänse einzutreiben und die Stalltür zu schließen. Auf dem Grundstück befindet sich noch heute besagter kleiner Wald. Ein dort siedelnder Fuchs hätte aus dem Stall nicht nur eine Gans gestohlen, sondern ein ganzes Hühnervolk gemordet, wären die Türen der Stallgebäude zur Unzeit offen geblieben.
Tante hatte ein kaputtes Knie. Sie hinkte, seit ich denken konnte. Das Laufen bereitete ihr Schmerzen. Ich begleitete sie öfter über die unebenen Grundstückswege. Eiersuche kannte ich nicht nur von Ostern. Die Hühner suchten sich das ganze Jahr über unmögliche Verstecke. Tante kannte sie genau. Eines war besonders bemerkenswert. Das Ehepaar besaß ein kleines rotes Auto, einen Hanomag, behauptete meine Mutter. Das Fahrzeug entstammte demzufolge der Hannoverschen Maschinen AG, gegründet 1871, die von 1924 bis 1951 ungefähr 100.000 Pkw herstellte. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte man ein solches Auto getrost als Rarität bezeichnen, zumal sich sein Standort auf dem Boden der DDR befand. Das Fahrzeug stand. Und stand. Der Wagen wurde meines Wissens nie bewegt. Er rostete durch, verfiel im Lauf der Zeit. Irgendwann brach eine Tür ab. Die in meiner Erinnerung roten Ledersitze bekamen witterungsbedingt tiefe Risse. Warum Onkel und Tante das Gefährt verrotten ließen, weiß ich nicht. Es war schade um das Fahrzeug. Aus Hannover Ersatzteile zu beziehen, gestaltete sich damals wohl nicht ganz einfach.
Mindestens ein Huhn inspizierte das Innere des Autos sehr genau. Hühner tragen scharfe Schnäbel im Gesicht. Gewundert hat sich das Tier gewiss über das heraustretende Stroh im Auto, das aus den brüchigen Ledersitzen quoll, und hackte interessiert nach. Es fühlte sich wohl an frisches Stroh erinnert und erkor dieses Versteck zum persönlichen Eiablageplatz. Die fleißige Henne baute sich eine Kuhle unter dem Sitzleder, kroch hinein und legte ihre Eier ab. Man musste sich etwas bücken, um sie zu ertasten. Solche Bückbewegung tat Tantes Knie nicht gut. Wenn ich mit ihr unterwegs war, geriet ich zu der zweifelhaften Ehre, meine Hand in das Loch zu stecken und die im Fahrzeug verborgenen Bio-Frisch-Eier ans Tageslicht zu befördern. Fast immer fühlten sie sich noch warm an. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass mich damals weder eine diebische Ratte in die Finger gebissen noch die eifrige Legehenne jemals angegriffen hat. Doch ich weiß, wie übel ein im Nest vergessenes Ei stinkt. Den Geruch nach Schwefelwasserstoff vergisst man nie. Auch an weit angebrütete Hühner-, Enten- und Gänseeier erinnere ich mich. Unter der Schale verbarg sich ein totes Küken, unterschiedlich weit entwickelt. Nicht unbedingt appetitanregend, wenn man vorhatte, gerade dieses Ei zu essen. Ich stehe absolut nicht auf Bio-Eier oder andere Bioprodukte.
Die Eltern einer Schulfreundin nahmen jedes Frühjahr einen Brutkasten in Betrieb.
Darin lagen Hühner-, einige Male sogar Gänseeier. Sie wurden kontrolliert bebrütet, eine absolut saubere Sache. Irgendwann hörte man im Inneren der Eier das Piepsen der Küken, die kurze Zeit später schlüpften und so klein wahnsinnig niedlich aussahen. Das bezeichne ich noch heute als ein kleines Wunder unseres lebendigen Gottes.
Doch werden Gänse erwachsen, sind sie gar nicht mehr schön, höchstens ganz schön angriffslustig. Vögel können nämlich nicht nur in Hitchcocks gleichnamigen Streifen angreifen, sondern sich auch im wirklichen Leben äußerst aggressiv verhalten. Ich kann mich gut erinnern, wie so manches Mal der respektable Gänserich von Tantes Gänsefamilie giftig hinter mir her zischte. Weiter machte er nichts. Doch fürchtete ich ihn wie Rotkäppchen den bösen Wolf.
Meine Mutter berichtete von einem Gänserich aus der Zeit vor meiner Geburt, der sich schlimmer als ein Wachhund gebärdete. Gehässig zischend und flügelschlagend ging er auf Mama los, sowie er mitbekam, dass sie das Grundstück von Onkel und Tante betreten wollte. Einmal, so sagte sie, kam sie mit einem Einkaufsbeutel. Der Gänserich geriet voll in Aktion. Meine Mutter sah sich zur Selbstverteidigung gezwungen. Ganz oben im Beutel lag das Paket aus der Fleischerei, Inhalt: 500 Gramm Schweineleber. Geistesgegenwärtig ergriff sie es und schmetterte es dem wilden Vogel entgegen. Das pfundschwere Geschoss soll ihn voll am Kopf getroffen haben. Vielleicht sah er einen Augenblick Sterne. Meine Mutter konnte entkommen. Der Leber hat die Zweckentfremdung nicht geschadet. Sie wurde wie geplant zum Abendbrot gewaschen, in Mehl gewendet, gebraten und mit viel gerösteter Zwiebel verspeist.
Mir ist nicht bekannt, ob das Mistvieh meine Mutter zukünftig in Ruhe ließ. Wie dem auch sei, langhalsiges Geflügel betrachte ich noch heute lieber aus der Entfernung – und wenn nicht, bevorzuge ich leblose Exemplare aus der Tiefkühltruhe. Es dürfen nur keine Bio-Gänse sein. Der Begriff ist für mich mittlerweile negativ besetzt. Wenn ich Bio sehe oder lese, wende ich mich mit einem unguten Bauchgefühl ab – was bestimmt nicht so viel mit meiner Kindheit zu tun hat, sondern eher mit der aggressiven Werbung. Möge derjenige Bio essen, der möchte. Ich nehme mir die Freiheit, es nicht zu tun. Ich glaube, wir sind reich gesegnet mit preiswerten, gesunden Lebensmitteln. Deshalb ist Bio für mich unnötig. Nötiger wäre etwas mehr Respekt gegenüber den fleißigen Bauern, die unsere Lebensmittel so preisgünstig herstellen, ob nun Bio oder nicht.
Was die Augen sehen, ist Wissen.
Was das Herz weiß, ist Gewißheit.
Everything which the eyes see is related to knowledge, and that which the heart knows is related to certainty.
Dhu'n- Nun al-Misri, ägyptischer Mystiker (798 - 859)
(zitiert nach Daly und Daly Okasha el 2005)
„Ich sehe wohl und weiß, doch kann ich mir meines Wissens sicher sein?“ So fragt sich der Autor, als er mit dieser Arbeit beginnt. Mit den belastenden Situationen bei Ehescheidungen von Freunden und im Bekanntenkreis beschäftigt er sich schon lange. Der Verfasser dieser Arbeit verortet sich selbst als verbindlich in seiner Kirchgemeinde mitarbeitendes Laienmitglied. Er leidet mit Betroffenen, Freunden und Gemeindegliedern, wenn sich Ehepaare trennen oder scheiden lassen. Zudem empfindet er es subjektiv als belastend, wenn die Organisation zu diesem Verhalten schweigt und keine offizielle Antworten zu geben im Stande ist. Freunde und Bekannte, denen dies in seiner Gemeinde widerfuhr, litten an dem Schweigen und an dem Getuschel, an den Gerüchten und dem Stigma, gegen moralische Regeln verstoßen zu haben. Sie mussten oder haben nämlich für sich das Recht einer Ehescheidung in Anspruch genommen.
Nach christlicher Moral wird allerorten gefragt. Doch wer hinterfragt schon die Regeln der Moral, die man meint, vertreten zu wollen oder zu müssen?
"Wir finden Moral immer als etwas Fertiges vor. Auch wenn sie sich wandelt, der Prozess, in dem wir sie erlernen während unserer Kindheit und Jugend, gibt uns den Eindruck von etwas Abgeschlossenem und Unveränderlichem." (Mitscherlich und Mitscherlich 1971, S. 159)
Ist nicht Moral stets neu zu entwickeln? Kann man die Moral unserer Vorfahren übernehmen, war es gut, wie es immer war? Legitimieren neue Moralen mein neues Handeln?
Was ist Wissen? Wann werde ich mir meines Wissens sicher sein?
Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung sind alle Aussagen in diesem Dokument im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes als geschlechtsneutral zu verstehen.
In die im Vorwort beschriebene Situation hinein erweckte ein Artikel in einer Kirchenzeitung die Aufmerksamkeit des Verfassers, ein Artikel über die Dissertation eines Theologen zum Thema Scheidungsrituale in Kirchen (Jakob 2012, S. 4f). Mittlerweile hat Andrea Marco Bianca unter dem Titel „Scheidungsrituale“ publiziert. Seine Arbeit ist ein wesentlicher Auslöser zur Beschäftigung mit den Belastungen, denen Menschen ausgesetzt sind, wenn Ehen scheitern und die Gemeinde nicht angemessen zu reagieren vermag. Er zeigt Lösungsmöglichkeiten auf, die solche Belastungen mindern helfen. Welche Belastungen dies sind, soll empirisch für den Raum Deutschland untersucht werden, da Bianca nur Material für die Schweiz untersuchte. Ohne die Belastungen weiter zu differenzieren, benennt Bianca wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Belastungen und nimmt Bezug auf die 1978/79 durchgeführte Untersuchung zu Scheidung in der Schweiz (im Auftrag des schweizerischen Bundesamts für Justiz, durchgeführt von Duss-von-Werdt/Fuchs) (Bianca 2015). Dabei differenziert er nicht den Bedarf durch die individuelle Persönlichkeit der Geschiedenen. Es drängt sich Frage nach dem „Warum?“ und „Für wen?“ auf.
Durch Rückgriff auf in der Literatur empfohlenes vorhandenes Datenmaterial verschiedener Quellen soll untersucht werden, ob eine Korrelation aus (vermutet höhere) bio-psychosozialen Belastungen und Religionsverbundenheit besteht. Dazu werden qualitativ narrative Interviews geführt. Quantitatives Datenmaterial ist in großer Fülle vorhanden. Daraus werden die Informationen aus dem Zensus 2011, der Leipziger Life-Studie, die Allbus-Daten, das Sozioökonomische Panel (SOEP) und Daten aus dem Long-term-Online-Tracking ausgewählt. Die Betrachtung des Materials soll beantworten, ob und wenn welche Erkenntnisse bezüglich der Bedingtheit von Belastungen und Erkrankungen durch Glaube und Scheidungserleben zu gewinnen sind und ob diese die These beweisen.
Das Long-term Online Tracking belegt ein signifikant geringeres Scheidungsverhalten bei Menschen, die sich selbst als aktiv in religiösen Gruppen/Organisationen mitarbei-tend bezeichnen (ohne Amtsträger zu sein). Damit korrespondiert eine deutlich höhere Neigung, getrennt aber nicht geschieden zu leben (vom Autor ausgewertete Kreuztabelle aus dem Datensatz ZA5727: Long-term Online Tracking, T27 (GLES) (vgl. Abbildung 2; Roßteutscher et al. 2015).
Bei verschiedenen soziologischen Untersuchungen ist feststellbar, dass die Differenzierung im Bereich der Religionsausübung oft mit der Kirchgangshäufigkeit gemessen wird. Roßteutscher hat im Long-term Online Tracking dagegen Variablen wie Organisationsmitgliedschaft beschrieben. Daher soll an dieser Stelle definiert werden, wie die Begriffe vom Autor inhaltlich gefüllt werden.
Religionsausübung ist eine bewusste Lebensführung in dem Wissen, sich einem höheren Wesen (Gott) gegenüber verantwortlich zu fühlen. Dabei gelten die von ihm gegebenen Regeln als Maßstab für gelingendes Leben. Das Ausüben der gesetzlich geschützten Religionsfreiheit (StGB §167) meint dabei die Glaubens- und Gewissens-freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat sowie dem Einzelnen und der Kirchengemeinschaft zustehende Kultusfreiheit (Ausübung kultischer Handlungen) (Bernhardt und Kuhn 2007, S. 14). Sie findet nicht allein in zugelassenen Kirchen statt, weshalb ein Kirchenbegriff für die Betrachtung der Problematik zu kurz greift. Daher wird hier auf alle Gruppen abgestellt, in denen religiöse und/oder kultische Handlungen ausgelebt werden unabhängig, ob diese den Status einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Körperschaftsstatus haben. Unter religiös geprägte Gruppen fallen auch die in Kirchen oft bestehenden Hauskreise oder Hauskirchen (Gruppen im Christentum, die Gottesdienst eher integriert in ihren Lebensvollzug denn als gottesdienstliche Veranstaltung verstehen. Ihre Mitglieder pflegen Gemeinschaft in kleineren Gruppen, oft in Privathäusern.) (Smith 2009).
Zu dieser Lebensführung gehört eine gewisse Verbindlichkeit, der eine bewusste Entscheidung für sie innewohnt. Verbindlichkeit ist ein moralisch begründetes Sozialverhalten zwischen Menschen und schließt Verlässlichkeit, Standhaftigkeit, Aktivität, Konsequenz und Ausdauer ein, eine Zusage oder Absichtserklärung zu erfüllen. Es impliziert das Einhalten von Gruppennormen.
"Das »biopsychosoziale Modell« war ein Leitmotiv für die Psychiatrie der neunziger Jahre. Diese idealtypische Modellvorstellung von Gesundheit und Krankheit beschreibt biologische, psychische und soziale Aspekte nicht nur additiv. Vielmehr handelt es sich um ein systemtheoretisches Modell der Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist im sozialen Kontext." (Brückner). Es erweitert das Krankheitsfolgenmodell, welches sich aus der WHO-Definition von Behinderung herleitet. Das biopsychosoziale Modell der WHO (World Health Organisation) beschreibt Gesundheitsprobleme als die komplexe Wechselwirkung von Körperfunktionen/Körperstrukturen mit den Aktivitäten des Menschen in der Teilhabe am Leben. Es berücksichtigt Umweltfaktoren und personalbezogene Faktoren, die schlussendlich gesundheitliche Folgen und dahingehend Behinderung in der Teilhabe am Leben haben können (Oelke und Altmeppen 2012, S. 139f). Diese werden als biopsychosoziale Belastungen betrachtet.
Verbindlich und aktiv in einer religiös determinierten Gruppe lebende Menschen machen sich unter bestimmten Bedingungen deren moralische, ethische, religiöse und lebensvollzugliche Maßstäbe zu eigen und erklären diese als für sich gültig. Ein Bruch der (Gruppen-) Regeln und Maßstäbe erscheint deshalb als Bruch eines Versprechens, als Zerstören der erklärten Verbindlichkeit und damit als Bruch mit der Gruppe. Zu den Paradigmen (christlich) geprägter Peers/Gruppen (und diese sind Gegenstand der Betrachtung) gehört das Ideal der dauerhaften verbindlichen ehelichen Beziehung (Burgk-Lempart 2010, S. 13). Es wird genährt von der Lehre der Unauflöslichkeit der Ehe, speziell in der Zeit ab Konstantin. Dieses Dogma nimmt Bezug auf die biblisch überlieferten Worte Jesu (Markusevangelium Kapitel 10 Vers 9): „Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ Dabei wird außer Acht gelassen, dass „alle uns bekannten monogamen und polygamen Gesellschaften die Scheidung kannten“ (Duss-von Werdt 1996, S. 19). Daraus ergibt sich die These, dass der Bruch der Regeln und der Bruch mit der Gruppennorm höhere Belastungen mit sich bringen als ein gleichgelagertes Verhalten außerhalb dieser Gruppen.
Bei einer Ehescheidung werden stets psychische und soziale Folgebelastungen vermutet. Daher wird zu belegen sein, dass Ehescheidung generell und bei religiös gebundenen Menschen insbesondere diese Belastungen krankmachen und die Teilhabe am Leben beeinträchtigen.
Daher wird die These wie folgt konkretisiert:
Menschen, die verbindlich in religiös determinierten Gruppen lebend deren moralische Regeln übernehmen, leiden bei Scheidungen unter zusätzlichen biopsychosozialen Belastungen. Diese lösen Krankheiten aus und erschweren damit die Teilhabe der Betroffenen am (sozialen) Leben.
Sollte sich dies bewahrheiten, kann belegt werden, dass besondere Eingriffe notwendig sind, diese erhöhten Belastungen zu minimieren.
Bianca beschreibt Scheidungsfolgen, ohne deren Gewicht als biopsychosoziale Belastungen zu benennen und detaillierter auf die Krankheitsfolgen einzugehen. Weil für Deutschland keine Aussagen getroffen werden, soll diese Arbeit dieses Manko bearbeiten und Handlungsempfehlungen geben, sofern sie sich aus der Beschäftigung mit Theorie, Praxis und Datensatzanalyse ergeben.
Zuerst sollen phänomenologisch die Begriffe Religiosität, Stufen des Glaubens und damit der Religionsausübung (Fowler) in den Milieus (SINUS) beschrieben werden. In einem weiteren Schritt werden basale Theorien bzw. Erkenntnisse zu Scheidung, Ehemodellen (Roussel) und Scheidungsphasen (Bernhardt) betrachtet. Im dritten Schritt wird das biopsychologische Krankheitsmodell (Engel/Adler) beleuchtet. Von besonderem Gewicht sind die Begriffe Risikofaktoren, Vulnerabilität, Resilienz und Ethik/Moral.
Anschließend werden als qualitatives Verfahren der empirischen Sozialforschung narrative Interviews geführt, ausgewertet und in Kapitel 6 beschrieben. In den Interviews werden die Forderungen Lamneks (Lamnek 1995) beachtet und diese nach dem Typenbildungsverfahren Kluges (Kluge 1999) analysiert. (Harke et al.) Bei der Erstellung ist zu beachten, dass die Verortung der Befragten in Milieus, Glaubensstufen und Religiosität (intrinsisch/extrinsisch) erkennbar werden. Die Analyseverfahren von Schütze und Rosenthal (Küsters 2009, S. 87) anwendend soll ermittelt werden, ob sich die befragten Geschiedenen durch die Scheidung in ihrer Religiosität beeinträchtigt fühlten, und ob dies symptomatisch belegbar ist. Durch Interpretation und vergleichende Typisierung soll thesenbeweisend abstrahiert werden, unter welchen Voraussetzungen Krankheitssymptome auftreten und ob diese zu Übergängen führen. (Die Befragten stammen aus dem christlich-religiösen Kontext, atheistische Kontrollbefragungen werden ob der Subjektivität der Fragestellung mangels theologischem Hintergrund als nicht zielführend verworfen).
Im Rahmen quantitativer empirischer Sozialforschung stehen umfangreiche Datensätze aus soziologischen Längs- und Querschnittstudien zur Verfügung. Betrachtungen der wesentlichsten Studien in Kapitel 7 anhand der vorhandenen Befragungsitems sollen es ermöglichen, Zusammenhänge von Scheidung, Scheidungsfolgen und religiöser Determinierung zu erkennen. Damit könnten Zusammenhänge zwischen den Faktoren erkennbar werden. Sollte dies nicht möglich sein, werden für weitergehende Forschungen Fragestellungen oder Forschungsitems erarbeitet. Im Kapitel 8 wird die Forschungsthese mit den Ergebnissen der Befragungen und der Datensatzanalysen abgeglichen.
Bei Jörg Stolz findet sich eine Definition von Religion und Religiosität, während er sich mit religiös-säkularer Konkurrenz befasst: „Religion ist die Gesamtheit der kulturellen Symbolsysteme, welche auf Sinn- und Kontingenzprobleme mit dem Hinweis auf eine transzendente Realität reagieren. Die transzendente Realität beeinflusst gemäß dieser Symbolsysteme das tägliche Leben, lässt sich aber nicht vollständig kontrollieren. Religiöse Symbolsysteme beinhalten mythische, ethische und rituelle Elemente, wie auch Vorstellungen von Heilsgütern. Religiöse Organisationen und Gemeinschaften, auf der sozialen Ebene angesiedelt, sind Einheiten mittleren Abstraktionsgrades, welche einen zentralen Bezug zu einer so definieren Religion aufweisen, also etwa eine religiöse Ideologie vertreten, religiöse Güter anbieten, religiöse kollektive Aktivitäten durchführen. Religiosität ist ein individuelles Erleben oder Handeln, insofern als es sich auf ein oder mehrere religiöse Symbolsysteme bezieht.“ (Stolz 2013, S. 33).
Die Art, wie Menschen ihrem Leben Sinn geben, betrachtet Schäfer aus dem Modell der Operationslogik und der Praxeologie (Bourdieu) heraus und nimmt den Begriff der Identität als Netzwerk von Dispositionen auf (Schäfer 2015, S. XVIII). Praxeologie erlaubt die Erfassung der (religiösen) Überzeugungen von kollektiven und individuellen Akteuren im Zusammenhang mit objektiven Ressourcen (-verteilungen) und sozialen Prozessen (Schäfer 2015, S. XVI). Religiosität trägt deutliche individuelle Aspekte in sich.
Identitätsfindung ist eine der von Erikson beschriebenen Entwicklungsaufgaben des (jugendlichen) Menschen. In immer neuen Entwicklungsaufgaben reifen die Person und ihre Identität heran und ermöglichen ihr so eine sinnvolle Einordnung in die objektiv gegebene Umwelt. Eriksons Forschungen zu Jefferson betrachten auch die religiöse Entwicklung in einer Abfolge seiner Lebenswege (Erikson 1980). Religiosität gehört damit (genauso wie Nichtreligiosität) zur Identität eines Menschen.
„In der Coping-Forschung werden religiöse Bewältigungsstrategien zu den emotionalen Copingstrategien gezählt. Durch eine nSinngebungo wird die subjektive Bedeutung, welche einem Ereignis zugemessen wird, modifiziert. [...] Religion ist lediglich eine von verschiedenen Stressbewältigungshilfen, - wenngleich sie bezüglich teleologischer Überlegungen eine überragende Sonderstellung einnimmt." (Kaiser 2010, S. 412). Die von Bianca zusammengetragenen Scheidungsrituale zählen zu diesen Bewältigungsstrategien.
Ross und Allport verweisen im Rahmen der Religiosität auf intrinsische und extrinsische Komponenten. Intrinsisch meint, wenn Gläubigkeit an sich einen obersten Wert hat, wenn er verinnerlicht ist, während extrinsisch den Nutzen der Religion zur Lebensbewältigung durch Kontakte, Beziehungen und Quelle der Sicherheit beschreibt (Allport und Ross 1967) beschrieben bei (Filipp und Aymanns 2010, S. 271).
„Wenn das Leben religiös macht“ benennt Lois sein Buch von 2013 mit dem Untertitel „Altersabhängige Veränderungen der kirchlichen Religiosität im Lebensverlauf“. Darin entfaltet er auf Fowler (1991), den psychosozialen Ansatz Eriksons (1968, 1988), die kognitiv-strukturellen Theorien Kohlbergs (1996) und Piaget (Flavell 1963) Bezug nehmend, das Fowlersche Sechs-Stufen-Modell des Glaubens mit seinen jeweiligen Übergängen (Lois 2013, S. 36).
Dieser „undifferenzierte Glaube“ ist in der frühen Kindheit (0-2) Jahre vorzufinden und kann synonym zu „Urvertrauen“ umschrieben werden. Kleinkinder erleben die Beständigkeit zu Bezugspersonen (z.B. Mutter: verlässlich, vertrauenswürdig) oder erleben Vernachlässigung und Verlust (Lois 2013, S. 36). Sicherheit und Geborgenheit werden auf eine reale oder imaginäre Person übertragen.
Der sich im Alter von drei bis sieben Jahren entwickelnde Glaube ist durch Intuition, Phantasievorstellung und Imitation von wahrgenommener Glaubensäußerung Erwachsener bestimmt. Kinder nehmen die Stimmungen, Handlungen und Geschichten der Erwachsenen auf und bilden mit Bildern ihrer Erfahrungswelt ein eigenes imaginatives Gebilde. Mit zunehmendem Alter werden diese Imaginationen durch selbstreflexives Denken geordnet. Altersbedingt stellen Kognition und Logik keine hemmenden Faktoren dar. Mit zunehmender Fähigkeit, aus dem Drang zur Erkenntnis einen Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit festzustellen, erwachsen Impulse zum Verlassen dieser Stufe. Dem geht jedoch eine unreflektierte Internalisierung der Geschichten voraus. Erst wenn Sprache, Symbole, moralische Regeln reflektiert und deren Sinnkonstrukte hinterfragt werden, ist der Übergang in die dritte Stufe möglich. Daher ist die zweite Stufe typisch für das Schulkind, kann jedoch vereinzelt auch bei Jugendlichen oder Erwachsenen beobachtet werden (Lois 2013, S. 36f). Eine gewisse Intelligenzleistung scheint notwendig zu sein, die nächste Glaubensstufe zu erreichen. In Deutschland gibt es jedoch kaum Forschungsergebnisse, die einen Zusammenhang von Intelligenzminderung und Religion belegen. Kaiser´s Datenbankanalyse zu Publikationen ergab bei der Korrelation von Operanden religion, mental health, germany nur 14 Treffer, bei religion, mental health, united states dagegen 197 Treffer. Ohne Ländereinschränkung ergab die Analyse nur 200 Treffer. Diese Problematik war in Deutschland nur wenig beachtet (Kaiser 2010, S. 451).